Paradoxien interner Organisationsentwicklung

18.12.2024

Aufkommen interner Organisationsentwicklung

Menschen streben gerne in Richtung Klarheit. Sie bevorzugen geordnete Verhältnisse. Seit Aufkommen größerer Unternehmen während der Industrialisierung wurden raffinierte Organisationsformen, Managementmethoden, Steuerungssysteme und Prozesse entwickelt, um diese Klarheit und Ordnung herzustellen und aufrechtzuerhalten. Innerhalb stabiler und vorhersagbarer Umweltbedingungen hatte dies auch zu enormen Produktivitäts- und Ergebnissteigerungen geführt. Umso verständlicher der Impuls, aufkommende Widersprüche und Zweifel durch Entscheidungen vermeintlich aufzulösen: "Wir machen es jetzt so!"
 
Es ist nicht verwunderlich, dass parallel zu einer komplexer werdenden Welt das Thema Organisationsentwicklung an Bedeutung gewinnt. Die - doch so schwer umzusetzende - Schlussfolgerung ist, die interne Komplexität ebenfalls zu steigern, um den vielseitigen und volatilen Umweltanforderungen begegnen zu können. Herkömmliche Rationalisierungsansätze von Fachberatungen kommen hier nicht weiter. Organisationsentwicklung zielt auf Kopplung von Außen und Innen, auf Lern- und Veränderungsfähigkeit und auf Reflexion und Erkenntnisgewinn.
 
Entsprechend sind in den letzten Jahren auch mehr Stellen für interne Organisationsentwickler aufgekommen. Immer mehr größere Firmen bilden ihre eigene interne Beratung aus, als Stabstelle oder als Inhouse Consulting. Die damit einhergehenden Hoffnungen sind groß, immerhin ist OE eine andauernde Aufgabe (siehe auch Grossmann, Bauer und Scala 2015).
Für interne Berater im Bereich Organisationsentwicklung ergeben sich mehrere gleichzeitige Paradoxien und Dilemmata:
 

  • Anschlussfähigkeit und Irritation: OEler müssen als interne Kollegen und Angestellte (und auch als Berater) Anschlussfähigkeit herstellen. Sie sind Teil der Organisation, die sie entwickeln sollen. Gleichzeitig sollen sie geschickt irritieren, um Lerneffekte und Perspektiven zu ermöglichen.
  • Komplexität und Kompliziertheit: OEler bewegen sich in einer komplexen, mehrdeutigen Welt. Mitarbeiter bewegen sich oft in einer komplizierten, eindeutigen Welt: sie möchten ihre Arbeit gut erledigen. Die Sprachen, Methoden und Ziele sind verschieden.
  • Beratung und Gehorsam: OEler sind sowohl untergeordnete Mitarbeiter wie auch die Berater und "Sparringspartner" ihrer Chefs. Sie haben die Aufgabe, zugunsten der Organisation, unbequeme Themen hervorzubringen. Sie möchten aber nicht wie ein Stachel im Fleisch sitzen und müssen oft jene Themen bearbeiten, die vorgegeben werden.
  • Ergebnis und Prozess: OEler betrachten vornehmlich den Prozess: wie eine Entscheidung zustande gekommen ist, wie Personen untereinander kommuniziert haben, wie sich Menschen organisieren usw. Die Kolleg:innen in den Abteilungen fokussieren die konkreten Ergebnisse. Sie sind an Prozess-Erkenntnissen möglicherweise wenig interessiert. OEler brauchen allerdings Ergebnisse für ihre Anschlussfähigkeit. Zu viel Ergebnis-Fokus verringert ihre Wirksamkeit, zu viel Prozess-Fokus verringert Anschlussfähigkeit.
  • Stabilisierung und Anregung: Die Grundparadoxie einer jeden Organisation. Fachbereiche brauchen stabile Arbeitsbedingungen. Nur darin sind sie leistungsfähig. Stabilitätsfaktoren sind meistens fachlicher/inhaltlicher Natur. OEler brauchen ebenfalls Stabilität. Ihre Aufgabe ist jedoch die Zugabe von Anregung (Irritation), von Neuem. Sie zielen auf Experimente und Erkenntnisse. Sie kommen damit der leistungsgetriebenen Organisation regelmäßig in die Quere.
  • Einbindung und Distanz: OEler kennen das System gut und sind selbst eng eingebunden. Gleichzeitig sollen sie eine Distanz und Unvoreingenommenheit wahren. Sie müssen zwischen Systeminvolvierung und operativer Schließung navigieren. Sie sind auf Involvierung angewiesen, um handlungsfähig zu bleiben, doch gleichzeitig auf eine Außenperspektive, um das System zu hinterfragen und zu reflektieren.
  • Macht und Ohnmacht: Von allen Seiten werden Veränderungs- und Orientierungserwartungen gestellt. OEler haben aber selbst keine Entscheidungsmacht, trotzdem sollen sie innerhalb hierarchischer Machtstrukturen kommunizieren. Sie können durch Kommunikation beeinflussen, doch nicht direkt steuern. Von OElern werden Veränderungen erwartet, doch sie können keine entscheiden.
  • Neutralität und Parteilichkeit: OEler sollen neutral und objektiv agieren und dem System dienen. Gleichzeitig vertreten sie oft die Interessen von Führungspersonen, zumal diese meistens die internen Auftraggeber sind. In einem System, das aus unterschiedlichen Subsystemen mit teils widerstreitenden Interessen besteht, agieren OEler als Vermittler und Katalysatoren struktureller Differenzierungen.

 
Die oben beschriebenen Paradoxien und Dilemmata bilden hier Lösungsprobleme, die früher oder später bei internen OElern wie auch Mitarbeitern aufkommen werden, und die bei Einrichtung der Stellen vielleicht nicht mitbedacht werden. Sie gelten grundsätzlich auch für externe Organisationsberater. Doch kommen Externe ins Unternehmen, ist die Erwartungshaltung eine andere: es wird erwartet, dass Distanz gewahrt bleibt, dass etwas Neues kommen soll, dass unbequeme Themen angesprochen werden können oder dass weniger auf Integration und Kollegialität gesetzt wird, da die Berater bald wieder aus dem System herausgehen. Durch das Herausgehen wird das Paradoxon aufgelöst. Interne OEler bleiben jedoch im System.

Der Umgang mit Paradoxien

Wie können Interne Organisationsentwickler mit diesen Paradoxien nun umgehen? Es ist die Aufgabe der Organisationsentwicklung, solche paradoxen Anforderungen auszuhalten und stets aufs Neue achtsam und angemessen zu entscheiden. Es gibt eine Reihe von Strategien und Prinzipien, die bei der Bearbeitung helfen:

  • Paradoxien und Dilemmata zunächst als solche durch Beobachten erkennen.
  • Anerkennen, dass diese strukturimmanent und nicht persönlich sind.
  • Anerkennen, dass Paradoxien nicht lösbar sind und sein müssen.
  • Aus der Dualität "entweder-oder" herauskommen und vermeintliche Gegensätze als komplementäre Aspekte betrachten.
  • Paradoxien für andere erkennbar und besprechbar machen - z.B. für Auftraggeber, Führungskräfte, Mitarbeiter usw.
  • Dadurch Paradoxiefähigkeit der Organisation erhöhen.
  • Beide Seiten achtsam balancieren, gegebenenfalls priorisieren, zeitliche oder inhaltsbezogene Schwerpunkte setzen.
  • Sich beim Balancieren beobachten, reflektieren und aus den Erkenntnissen lernen.
  • Sich bewusst sein, in welcher Rolle man sich in einer Situation befindet und eventuell dies entsprechend äußern.

Paradoxien wirken unangenehm und jede Person, die sich in ihnen wiederfindet, kann sich leicht verzetteln und frustrieren. Sie gehören jedoch zu Organisationen als komplexe Systeme dazu. "Wenn man eine Organisation wirklich verstehen will", schrieb Morgan schon 1997, "ist es sehr viel klüger, davon auszugehen, dass Organisationen komplex, vieldeutig und paradox sind.“ Wer in Unternehmen arbeitet, findet sich früher oder später in Paradoxien, Dilemmata, Konflikten und Stresscontainern wieder. Interne OE-Berater schielen ständig zwischen den konkurrierenden Seiten der Paradoxien.

Paradoxien haben auch ihr Gutes

So unangenehm und sperrig Paradoxien wirken, sie haben ihre eigene besondere Kraft. So sehen Eidenschink und Merkes (2021) in ihrer Diskussion über Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten "eine Ressource und einen Hinweis auf die darin entfaltete Einheit. Sie liefert das 'Material', das immer wieder neu für Entscheidungsbedarfe sorgt und der Organisation erst ihre Dynamik verleiht." Und genauso sehen es Matthiesen, Muster und Laudenbach (2022). Spannungen und Widersprüche sind in ihren Untersuchungen unvermeidbare Folge organisationalen Handelns uns stecken voller Ressourcen für Selbstbeobachtung und Führungsgelegenheiten.

Wer es schafft, Paradoxien der internen Beratung nicht als Hemmnisse und Lähmungen zu betrachten sondern als Dynamikfaktoren und Merkmale der resonierenden Organisation kann diese Rolle mit Wirksamkeit auskleiden. Hier kann das System zu einer neuen Leistungs- und Lernfähigkeit geführt werden.

Gleichzeitig taucht sozusagen ein Meta-Paradoxon auf: Jenes Paradoxon, dass interne OE überhaupt erst mit ihrem Dasein entwickelt, verhilft ihnen zur Wirksamkeit. Ein kluges Unternehmen entscheidet sich nicht nur für OE als Lösung, sondern betrachtet die Folgeprobleme. Eine kluge Organisationsentwicklung managt diese und bringt sie in die Kommunikation ein.