Personale vs. organisationale Sichtweisen in Organisationen
Wie die organisationale statt der personalen Sichtweise Wandel beschleunigen kann.
Komplexität bearbeiten
Der Held im Märchen muss alleine losziehen, aber mit List und Stärke gelingt es ihm, alle Feinde und Drachen zu besiegen. Der tapfere Macher sorgt dafür, dass die Welt sich zum Besseren verändert. Diese Heldengeschichte entspricht auch dem, was wir von früher Kindheit an erleben - das Handeln oder Unterlassen einzelner Menschen sorgt für Wohl und Wehe einer Gemeinschaft.
So weit, so banal. Glauben wir. Was wir dabei notorisch überschätzen, ist der wirkliche Einfluss des Einzelnen. Und genauso notorisch unterschätzen wir den Einfluss des sozialen Systems, an dem der Einzelne beteiligt ist. Das verwundert nicht, denn das soziale System kann man nicht sehen und man kann ihm auch schlecht Schuld oder Ruhm zuschreiben.
PRAXISFELD vertritt die Sichtweise, dass der organisationale Rahmen mit seinen kulturell überlieferten mentalen Modellen, Regeln und Erwartungen einen weit größeren Einfluss auf den zukünftigen Erfolg oder Misserfolg einer Organisation hat, als die Eigenschaften, Kompetenzen und Motive, die den handelnden Personen zugeschrieben werden(1).
Für die Steuerbarkeit von Organisationen in einer komplexen, volatilen und mehrdeutigen Umwelt ist diese Unterscheidung elementar. Organisationen muss man grundlegend anders behandeln als Personen. Und verstehen, dass Personen notorisch blind sind gegenüber dem sie prägenden, beeinflussenden Umfeld.
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Eine erkenntnistheoretische Binsenweisheit sagt: Man kann nur bewusst bearbeiten, was man auch sehen kann. Beispielsweise kann ich auf den neu entstehenden Wettbewerb durch branchenfremde Unternehmen erst dann reagieren, wenn ich ihn wirklich als Wettbewerb ansehe. Oder ich sehe als CEO erst sehr spät, dass die beschlossene Organisationsveränderung gar nicht wirksam wird, weil mir nur geschönte Erfolgsmeldungen überbracht werden, was natürlich verhindert, dass ich reagieren kann.
Im Organisationskontext ist Sehen natürlich vor allem metaphorisch gedacht als ernst nehmen, untersuchen, besprechen oder anderweitiges bearbeiten.
Um im Bild zu bleiben, kann man von blinden Flecken in der Organisation sprechen, die all das umfassen, was keine Aufmerksamkeit erhält.
Für die Zukunfts- bzw. Anpassungsfähigkeit von Organisationen ist es wichtig, dass sie ihren blinden Fleck möglichst klein halten, um nichts Wichtiges zu übersehen oder zumindest Entscheidungsalternativen zu haben.
Wenn z.B., wie im Fall Nokia, der Weltmarktführer für Mobiltelefone mit mechanischer Tastatur damit konfrontiert wird, dass ein Computerhersteller ein Mobiltelefon entwickelt, das einen größeren Bildschirm mit virtueller Tastatur bietet und darauf jahrelang kaum reagiert, kann man vermuten, dass die Bedrohung in dem Umfang nicht "gesehen" wurde.
Personale mentale Modelle
Organisationsforscher sprechen in diesem Zusammenhang von mentalen Modellen, Kognitionsforscher von Frames. Das sind unsere Landkarten und Erklärungsmuster der Welt, die sich aus vorangegangenen Erfahrungen und daraus getroffenen Schlussfolgerungen speisen. Diese Deutungsrahmen sorgen dafür, dass wir im beruflichen und privaten Alltag intuitiv, energiesparend und zu 95% automatisiert handeln können(2). Wenn Menschen z.B. wiederholt erfolgreich Entscheidungen in eine bestimmte Richtung getroffen haben, dann wird das ihr mentales Modell von Selbstwirksamkeit und Fachkenntnis prägen.
In Bezug auf Menschen haben wir es mit der personalen Variante von mentalen Modellen zu tun, also mit dem psychischen System. Wenn wir an die Entscheider bei Nokia denken, dann werden wir nie erfahren, welche mentalen Modelle dort existierten. Das liegt daran, dass man nicht in den Kopf des damaligen CEO reinschauen und dort aufzeichnen konnte, was er dachte und sein Denkrahmen war.
Kollektive mentale Modelle werden als Geschichten gespeichert
An dieser Stelle kommen wir zu der eigentlichen Unterscheidung zwischen personaler und organisationaler Sichtweise. Diese Unterscheidung treffen wir zugunsten größerer Wirksamkeit in der Steuerung von Organisationen. Die Entscheidungen in Organisationen werden auf der Grundlage kollektiver mentaler Modelle getroffen, die vorselektieren, was die Organisation überhaupt sieht. Grundannahme hierfür ist, dass Organisationen soziale Systeme sind, die wiederum aus Kommunikation bzw. Entscheidungen bestehen(3). Für ihre Weiterexistenz ist fortlaufend Anschlusskommunikation erforderlich.
Organisationen haben natürlich kein Gehirn und können nur im metaphorischen Sinne mentale Modelle haben, weshalb wir zur Kennzeichnung das Wort "kollektiv" hinzufügen. Die kollektiven mentalen Modelle von Organisationen bilden die Entscheidungsgrundlage für wiederkehrende und außerordentliche Entscheidungen. Damit sie dafür verfügbar sind, müssen sie in einer passenden Form gespeichert und reproduziert werden. Das passiert, anders geht es nicht, in Form von Kommunikation. Das können Handbücher und Verfahrensanweisungen sein, aber vor allem sind es Geschichten, die man sich erzählt. Diese Kommunikation behält ihre Form und ihren Charakter weitgehend unabhängig von den Menschen, die in der Organisation kommen und gehen. Geschichten werden durch stete Wiederholung und Weitererzählung geschliffen und speichern Entscheidungsvorlagen. Die damit verbundenen Emotionen sorgen für Bestätigung und Relevanz der Geschichten.
Eine Geschichte, die man sich im Falle Nokia vorstellen könnte, wäre das mit Stolz verbundene Erfolgsnarrativ über den Marktführer, der genau weiß, was seine Kunden brauchen. Die kollektiven mentalen Modelle werden im Sinne sich selbst erfüllender Vorhersagen aufrechterhalten und führen zu organisationalen Routinen und Entscheidungsmustern. Diese Muster sind die Identität der Organisation: "So machen wir das hier."
Der institutionelle Rahmen(4) bleibt extrem stabil, auch wenn Personen ausgetauscht werden, da die Identität der Organisation eben nicht an einzelne Personen gebunden ist. Im Gegenteil, dieser Rahmen, das kollektive mentale Modell der Organisation, sorgt für die Selektion der "richtigen" Personen, Erwartungen und Verhaltensweisen.
Wie organisationale Bedingungen Wandel verhindern
Wenn das "So haben wir das schon immer gemacht" nicht mehr ausreichend funktioniert und sich die Organisation ändern muss, stellt sich die Frage, welche Alternativen sie sieht. An dieser Stelle kommen die blinden Flecken ins Spiel: Denn der Beobachter sieht zwar alle anderen, aber nicht sich selbst. Erst wenn er sich beim Beobachten beobachtet, sieht er, wie er beteiligt ist an dem, was er beobachtet.
Eigene kollektive mentale Modelle sowie organisationale Muster und Routinen zu sehen und zu bearbeiten, ist jedoch meist gar nicht als relevante Denkfigur vorhanden. Daher ist es nicht geübt und auch nicht Teil der Unternehmer- oder Managerausbildung.
Dazu kommt oft die kritische Betrachtung oder Tabuisierung von anderen Sichtweisen. So bekommt es jeder sofort mit der organisationalen Kraft in der Organisation zu tun, der als Einzelner auf Grundlage anderer Sichtweisen etwas anders sagt oder macht.
Da hilft es wenig, an den Mut und die Gestaltungsmöglichkeiten der Einzelnen zu appellieren.
Wenn in Organisationen das Wissen darum nicht vorhanden ist, dass die kollektiven mentalen Modelle bzw. der organisationale Rahmen eine ungeheure Beharrungskraft entfalten, sind alle Analysen und Schlussfolgerungen mindestens unzureichend, oft aber auch falsch. Diese Beharrungskraft wundert nicht, denn die kollektiven Modelle bedeuten das konzentrierte Erfolgswissen der Organisation und werden entsprechend „verteidigt“.
Wir haben mit dem Aufkommen der industrialisierten, fremdbestimmten Arbeit und der aufkommenden Human Resources Bewegung zum größten Teil daran geforscht und gearbeitet, Menschen zu verstehen, zu motivieren und zu manipulieren. Dagegen fehlt es weitgehend an gelerntem und geübtem Handwerkszeug, um die organisationalen Gelingensbedingungen zu beeinflussen und damit Komplexität zu bewältigen
Wie hilft die organisationale Betrachtungsweise dabei, Wandel wirksamer und schneller zu gestalten?
Die kollektiven Glaubenssätze und Geschichten zu hinterfragen, ist die Grundlage für das Einlassen der Organisation auf neue „Mindsets“. Diese Empfehlung läuft übrigens einem mächtigen Glaubenssatz in Organisationen zuwider. Dieser besagt, dass man sich nicht mit der Vergangenheit aufhalten soll, sondern lieber die neuen, gewünschten mentalen Modelle „trainiert“.
Ein kollektiver Sinnstiftungsprozess beginnt aber immer mit der Vergangenheit. Denn die Überzeugungen und Geschichten der Organisation sind die gespeicherten Erfolgsrezepte. Erst muss man sich erklären, warum etwas nicht mehr in dem Maße gilt und was die bisherige Entscheidungsgrundlage war, bevor man sich fragen kann, was man stattdessen tun kann.
Wenn man die organisationalen Ursachen und Zusammenhänge in Strategie- und Zukunftsworkshops thematisiert und analysiert, durchbricht man die Rechtfertigungsschleifen, die oftmals durch personale Schuldzuschreibungen verursacht werden.
Die Frage dazu lautet: Welche kulturellen, organisationalen Regeln und unausgesprochene Erwartungen sorgen dafür, dass die Mitarbeiter und Führungskräfte in Organisationen das tun, was sie tun? Wenn man genauer hinschaut, wird man feststellen, dass es häufig eine unausgesprochene „Erlaubnis“ für das jeweilige Verhalten gibt und es unterhalb der offiziellen Normen und Werte eine Schattenwelt der informellen Werte gibt. Der VW Abgasskandal liefert hierfür ein perfektes Beispiel.
Hinter personalen Schuldzuweisungen stecken oft organisationale Dilemmata, die der Einzelne ausbaden muss. Wenn diese Dilemmata sprachfähig gemacht werden, kann man sie bearbeiten.
Wir müssen uns regelmäßig daran erinnern, dass der Blick auf die einzelnen Helden und Sündenböcke in einer komplexen Welt in die Irre führt. Glücklicherweise hilft uns Trump dabei zu verstehen, dass lineares Denken zwar Erleichterung verschafft, aber selten das erreicht, was es verspricht. Auch Trump ist nicht schuld. Sündenböcke haben eine wichtige soziale Funktion. Aber in Organisationen, die sich weiterentwickeln wollen, sind Sündenbockphänomene nur Indikatoren für dysfunktionale Aspekte.
Fazit
Menschen, die mit der organisationalen Sichtweise nicht vertraut sind, sagen regelmäßig: „Ja, aber ich muss doch den Einzelnen verantwortlich machen können. Wenn das soziale System einen so großen Einfluss auf den Bereich des Sichtbaren und Möglichen hat, dann können sich ja alle rausreden.“
Unsere Erfahrung zeigt das Gegenteil. Die Menschen sind sehr wohl bereit, für das, was sie beeinflussen können, die Verantwortung zu übernehmen. Und die Unterscheidung zwischen individueller Persönlichkeit und kollektiven Mustern, führt zu einem Wir-Gefühl, das nicht mehr starr ist, sondern bereit, sich dem Wandel zu stellen.
Autor: Holger Schlichting
zu 1) Siehe auch Dirk Baecker, Postheroisches Management, Merve 1994
zu 2) Siehe auch Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, Penguin Verlag, 2011
zu 3) Bestünden Organisationen aus Menschen, also aus strukturell gekoppelten biologischen und psychischen Systemen, würde sofort die Frage auftauchen, woher man wüsste, was diese Menschen da eigentlich machen bzw. welcher Teil von dem, was sie machen eigentlich der Organisation zuzurechnen ist. Siehe auch Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 24 ff, Suhrkamp 1998
zu 4) Reinhard Sprenger, Radikal Führen, Campus Verlag, 2012. Sprenger verwendet den Begriff "institutioneller Rahmen", während wir vom "organisationalen Rahmen" sprechen, meint jedoch das Gleiche.