Ganz Deutschland wundert sich, wie sehr Politiker in ihren aktuellen Corona-Bekämpfungsentscheidungen wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren. Viele Entwicklungen in der Pandemie waren Wochen im Voraus absehbar und hätten mit entsprechenden Maßnahmen reduziert werden können.
In den sozialen Medien lässt sich diese Verwunderung in vielen Formen finden, einerseits in aggressiven Kommentaren, andererseits auch in witzigen Comics und Skizzen oder in unterschiedlichen, aber inhaltlich sehr ernst zu nehmenden Youtube-Beiträgen zum Beispiel von der Quarks-Redaktion oder von REZO.
Leitdifferenzen und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft
So leicht diese Wissenschaftsignoranz zu kritisieren ist, so leicht ist sie jedoch systemtheoretisch zu erklären. Oder anders: Die aktuelle Pandemie-Situation führt uns nachdrücklich vor Augen, wie recht Niklas Luhmann mit seinen Aussagen über die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und die Leitdifferenzen der unterschiedlichen Segmente hat.
Ohne Anspruch auf vollständige Richtigkeit (im wissenschaftlichen Sinne) folgt hier mein Versuch, das einfach zu erklären:
Jedes Segment unserer modernen und segmentierten Gesellschaft folgt einer eigenen Leitdifferenz. Das heißt, dass die Entscheidungen, die Menschen in dem jeweiligen System treffen, sich letztendlich immer an dieser Leitdifferenz orientieren. Je ernster die Lage wird, desto deutlicher zeigt sich das. Während in entspannten Phasen Zeit für Umwege und zum Ausprobieren ist, schlägt bei steigender Anspannung die Leitdifferenz erbarmungslos zu.
Macht versus Wahrheit
Politik und Wissenschaft folgen unterschiedlichen Leitdifferenzen: die Wissenschaft der Leitdifferenz wahr/falsch, die Politik der Leitdifferenz Macht/keine Macht.
An dieser Leitdifferenz orientieren sich – in der Regel unbewusst – die Entscheidungen der Menschen im jeweiligen System. Genau damit erklärt sich das Phänomen, dass zum Beispiel im Video von REZO als „Respektlosigkeit vor wissenschaftlichen Erkenntnissen“ bezeichnet wird.
Jeder einzelne (oder zumindest viele) der Politiker*innen sind sicherlich nicht dumm und unreflektiert, aber letztendlich werden ihre Entscheidungen im überwiegenden Teil von den unsichtbaren Mustern und Erwartungen des jeweiligen Systems geprägt. Und diese ergeben sich eben aus der Leitdifferenz. Unter´m Strich sind diese immer stärker als die einzelne handelnde Person. Somit zielen Entscheidungen der Politik, zugespitzt gesagt, immer auf Machterhalt. Egal in welchem politischen System.
Ausnahmen von der Regel
Das schließt natürlich nicht aus, dass es Ausnahmen und starke Persönlichkeiten gibt, die mit ihren Entscheidungen diesen Grundsätzen widersprechen. Frau Merkel versucht (als Wissenschaftlerin) phasenweise immer wieder, wissenschaftliche Erkenntnisse zum Maßstab von Entscheidungen zu machen. Herr Lauterbach macht das mittlerweile mit großer Beharrlichkeit. Er kann das, weil er gleichzeitig Wissenschaftler ist und machtpolitisch nicht viel zu verlieren hat.
Das erfordert viel Kraft und Stärke, kann aber tatsächlich auch Beachtung im jeweiligen System finden und temporär neue Entwicklungen herbeiführen. Ganz sicher. Es ändert aber letztendlich nicht die Leitdifferenz des jeweiligen Gesellschaftssegments.
Aktuell ist das manchmal beim Lesen von aktuellen Nachrichten schwer zu ertragen, aber so lässt es sich erklären.
Abwägen in paradoxen Situationen
Diese Gedanken sollen niemanden in Schutz nehmen oder einseitig kritisieren. Die Erwartung zu wirksamen politischen Entscheidungen in der Pandemie ist sicherlich vollkommen erlaubt. Aber das einzulösen, erfordert einen (nur bedingt möglichen) „Ausbruch“ aus dem jeweiligen System.
Jede*r, der das tut, geht aus der Innensicht des Systems ein hohes Risiko ein, obwohl er oder sie weiß, damit für die Pandemiebekämpfung vielleicht einen wichtigen Beitrag zu leisten. Dieser geschieht jedoch immer im bewussten oder unbewussten Abwägen der paradoxen Situation.
Hoffen wir trotz oder auch wegen der Systemtheorie auf wirksame Entscheidungen und zunehmendes Licht am Horizont der Pandemie. :-)
Die Leitdifferenz im Wirtschaftssystem
Vielleicht bleibt noch die Frage, warum wir uns als Organisationsberatung mit diesem Thema beschäftigen. Mit Politik und Wissenschaft haben wir zwar hin und wieder mal zu tun, eher aber am Rande. Wir erleben und thematisieren jedoch in sehr vielen unserer Projekte eine andere Leitdifferenz und deren Mächtigkeit, nämlich die Leitdifferenz im Wirtschaftssystem. Hier geht es immer um die Frage: Geld/kein Geld bzw. zahlungsfähig/nicht zahlungsfähig.
Wir sind große Fans von motivierenden Arbeitsplätzen mit der Möglichkeit für alle Mitarbeiter*innen, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Und ebenso von Organisationen, die ihren Mitarbeiter*innen mit einem hohen Maß an Respekt und Vertrauen begegnen.
Wir wissen aber auch, dass all diese Dinge nicht missionarisch zu erreichen sind, sondern in Unternehmen nur im Einklang mit der Beachtung der Leitdifferenz funktionieren. Denn aus der Leitdifferenz schöpft die jeweilige Organisation in erster Linie ihre Daseinsberechtigung und ihre Überlebenschance.
Konkret: Wenn zum Beispiel Maßnahmen zur Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit am Ende zu wenig in die Zahlungsfähigkeit der Organisation einzahlen, dann sind sie vielleicht wünschenswert und in guten Zeiten auch möglich, sie werden aber nicht überleben, wenn es schlecht ums Unternehmen steht.
Daher gelingt keine nachhaltige Veränderung in Unternehmen, wenn sie nicht in hohem Maß auch der Leitdifferenz folgt. Wir freuen uns sehr, dass das trotzdem heute oft kein Widerspruch ist und wir in vielen unserer Projekte am Ende mit einer Win-win-Situation sowohl in Motivation und Zufriedenheit als auch in den Unternehmenserfolg einzahlen.
Wer nun neugierig geworden ist auf das Thema Leitdifferenz, dem empfehle ich hier noch unsere Podcastfolge „Die Macht der Leitdifferenz“ oder ein persönliches Gespräch mit uns.
Autor: David Agert