Agilität ist (k)ein Allheilmittel

08.11.2019

Für sehr viele ist Agilität aktuell DAS Allheilmittel zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit, für manche aber immer noch die Bedrohung von Stabilität und Effizienz.

Auch in unseren Projekten geht es oft um Agilität und wir werden gefragt, wie PRAXISFELD eigentlich dazu steht. Wenn wir das Thema nicht als relevant erachten würden, dann würden wir das auch nicht in unseren Beratungen, Seminaren und Weiterbildungen als Thema anbieten.

Agilität kann aus unserer Sicht einen wichtigen Beitrag zur Lösung aktueller Herausforderungen bieten, aber sie ist kein Allheilmittel.

Was ist Agilität?

Auch wenn der Versuch, kurz zu beschreiben, was Agilität eigentlich ist leicht schief gehen kann, da es natürlich verschiedene Definitionen und Ansichten gibt, zunächst ein kurzer Gedanke dazu, was ich im Kopf habe, wenn ich hier über Agilität schreibe:

  1. Agilität beschreibt aus meiner Sicht die Fähigkeit von Personen und Organisationen, flexibel zu sein bezogen auf Aufgabenverteilung, Prozesse, Produkte u.ä., wenn veränderte Rahmenbedingungen dies sinnvoll erscheinen lassen.
  2. Agilität bedeutet außerdem, sich immer parallel am nächsten notwendigen Arbeitsschritt UND am großen Ziel zu orientieren.
  3. Und Agilität erfordert zudem die Fähigkeit, regelmäßig zwischen operativem Tun und dem Reflektieren dieses Tuns zu wechseln, denn das ist notwendig, um die beiden erstgenannten Punkte überhaupt umsetzen zu können.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Agilität nur sinnvoll ist, wenn sie reflektiert zum Einsatz kommt. Oder besser: Die Arbeit auf Grundlage agiler Frameworks wie OKR, Scrum, Kanban (jeweils in Reinform oder kombiniert und inspiriert aus diesen und anderen methodischen Ansätzen) ist an manchen Stellen sehr sinnvoll und wirksam, an anderen mindestens überflüssig, vielleicht sogar kontraproduktiv. Es geht also bei Agilität keinesfalls darum, Dinge einfach immer mal wieder anders zu machen und lustorientiert heute mal für diese, morgen mal für jene Aufgabe zuständig zu sein.

Agiles Arbeiten ist vor allem in Bereichen sinnvoll, in denen die Antwort noch nicht bekannt ist, in denen Neues entwickelt werden muss, in denen sich Kontext und Anforderungen verändern und in denen immer wieder gemeinsam geprüft werden muss, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist. Damit meine Gedanken nicht zu kritisch wirken, sei hier auch gesagt, dass der Anteil dieser Bereiche im Zeitalter der Digitalisierung und allen damit zusammenhängenden Auswirkungen natürlich rapide steigt. Gerade bei großen Projekten und langfristigen Prozessen weiß man heute in vielen Branchen nicht, wie die Welt rundherum aussieht, wenn man am Ende angelangt ist. Und hier ist es natürlich sinnvoll, regelmäßig nach rechts und links zu schauen, Erkenntnisse zu sammeln und den Plan zu überprüfen. Die Tatsache, dass dieser Bereich größer wird, ist der Grund dafür, dass agile Ansätze (richtigerweise) gerade so boomen.

Agiles Vorgehen in Changeprozessen verändert alte Denkweisen

In unseren Strategie-, Entwicklungs-, Kultur- und Zukunftsprozessen ist es immer so, dass wir mit dem Kunden zusammen in den Bereich neuer und zunächst unbekannter Ideen und Szenarien vordringen. Deshalb ist unser Vorgehen immer agil, mindestens in der Grundhaltung, dass Entwicklungsprozesse in Organisationen immer schrittweise und iterativ erfolgen, zunehmend aber spätestens ab dem Moment des Ausprobierens von neuen Vorgehensweisen auch eng orientiert an agilen Frameworks und den sich daraus ergebenden „Regeln“. So unterscheiden wir z.B. zwischen strategischer, taktischer und operativer Ebene in Veränderungsprozessen und organisieren die entsprechenden Settings, die diese Ebenen reflektierend verbinden.

Inwieweit sich diese agilen Arbeitsweisen dann in Folge auch im Alltag der Organisation etablieren, ist dann unter anderem sehr branchenabhängig. Sicher ist auf jeden Fall, dass der agile Veränderungsprozess am Mindset der Organisation arbeitet und das ist – neben dem Kennen und Üben von agilem Vorgehen in methodischer Sicht – eine Grundbedingung dafür, dass agiles Arbeiten im Alltag der Organisation funktioniert. Ganz sicher entsteht eine Haltung die deutlich macht, dass es sinnvoll ist nie nur gedankenlos „abzuarbeiten“, sondern immer mal wieder auch darüber nachzudenken, ob das Vorgehen so noch richtig ist.

Agilität funktioniert nicht überall

Und trotzdem ist Agilität dann keine Lösung für alle Situationen in einem Unternehmen. In jeder Organisation gibt es Bereiche, die über optimierte und sich ständig wiederholende Prozesse funktionieren und gerade deshalb erfolgreich sind, weil sie nicht ständig angepasst und verändert werden. Das ist immer genau dort der Fall, wo es z.B. um Verlässlichkeit, Fehlerfreiheit und um Geschwindigkeit geht. In jeder Organisation gilt das z.B. für administrative Prozesse, für Bereiche wie Buchhaltung und Finanzen, aber je nach Branche auch im Bereich von Produkten und Dienstleistungen, z.B. bei sich wiederholenden Produktionsprozessen. Wie gesagt: Auch hier immer mal wieder zu überdenken, ob das Vorgehen noch das richtige ist oder ob es verbessert werden kann, ist natürlich sinnvoll. Aber damit sind wir noch weit entfernt von Agilität, wie sie in der Regel verstanden wird. Und diese Denkaufgabe betrifft dann auch nicht jeden Mitarbeitenden im Arbeitsalltag, sondern zunächst vor allem Führungskräfte und das Management. Das heißt nicht, dass man als Mitarbeitender nicht (mit)denken sollte und das auch erlaubt und gewünscht sein sollte. Aber in solchen Bereichen ist es auch in Ordnung, auf möglichst wenig Störung, hohes Tempo und all das zu achten, was dort eben zählt. Hier auf Agilität zu setzen würde vor allem Prozesse verlangsamen und aufhalten, statt sie besser zu machen. Anders als in den oben beschriebenen Feldern, in denen gerade die agile Vorgehensweise am Ende zum passendsten Ergebnis führt, auch wenn und gerade weil Zeit für regelmäßige Reflexion eingesetzt wurde.

Ambidextrie - das Wechselspiel zwischen Innen- und Außenschau

Unausweichlich kommt einem hier auch ein anderer Begriff in den Sinn, dem man zurzeit an jeder Ecke begegnet. Das ist die Ambidextrie. Ambidextrie beschreibt genau die Tatsache, dass es in jeder Organisation Bereiche gibt, in denen es um Effizienz, Reproduktion und Optimierung geht (Exploitation) und Bereiche, in denen die Weiterentwicklung, das Ausprobieren und das Beobachten der Entwicklungen außerhalb der Organisation, z.B. beim Kunden im Fokus stehen (Exploration).

Ein Hebel für die Zukunftssicherung einer Organisation ist die ständige bewusste Balancierung dieser beiden Bereiche und in Folge dessen auch die ständige neue Entscheidung, wo agil vorgegangen wird und wo nicht. Die Dimension der beiden Seiten ist wieder sehr branchen- und produktabhängig. Auch heute gibt es noch Organisationen, die gut damit beraten sind, die Exploration vor allem den zuständigen Abteilungen und dem Management zu überlassen, auf der anderen Seite gibt es Organisationen, in denen man die von Exploitation gekennzeichneten Bereiche fast suchen muss. Beide Bereiche verbinden sich übrigens auch in der Nutzung agiler Vorgehensweisen. Auf der einen Seite lernt man die agilen Prozesse zu leben und zu optimieren (Exploitation), auf der anderen Seite geht es inhaltlich auf Grundlage dieser Prozesse ständig um das Entdecken neuer Möglichkeiten (Exploration).

Agiles Arbeiten verändert hierarchische Strukturen

Ambidextrie ist im Übrigen ebenso wie Agilität so im Trend, weil darin Erklärungs- und Lösungsansätze liegen, die heute das Überleben und den Erfolg von Organisationen im digitalen Zeitalter sichern können. Oft wird diese Ursache übersehen und Agilität wird vor allem mit humanistischen Argumenten und im Zusammenhang mit Mitarbeiterfreundlichkeit und Arbeitgeberattraktivität genannt, weil doch endlich die Mitarbeitenden ernst genommen werden und sich nach eigenem Interesse und mit vielen Wahlmöglichkeiten in der Organisation einbringen können. Viele dieser Aspekte stimmen auch und sind sicherlich ein sehr positiver Nebeneffekt. Es ist aber ein Trugschluss, davon auszugehen, dass das die Ursachen für die Verbreitung sind und dass es aus Mitarbeitersicht nur positive Aspekte gibt.

Im Gegenteil: Agile Vorgehensweisen verlangen viel von den Mitarbeitenden. Einerseits sind dies die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Handeln immer wieder auf Basis des Ziels und der Strategie der Organisation zu überdenken und zu justieren. Andererseits ist das aber auch ein sehr hohes Maß an Transparenz und damit Kontrollmöglichkeiten. Wenn ich mich im Extremfall jeden Morgen oder zumindest jede Woche mit meinen Kolleginnen und Kollegen am Kanbanboard treffe, um gemeinsam zu sichten, welche Aufgaben erledigt sind, welche Erkenntnisse entstanden sind und welche Schritte nun anstehen, dann bin ich mit meiner Arbeit und auch meiner Leistung so transparent wie nie zuvor, selbst wenn mein Chef gar nicht dabei ist. Agile Vorgehensweisen brauchen weniger klassische Hierarchie. Die Kontroll- und Steuerungsfunktion wird automatisch vom eigenen Team übernommen. Agile Vorgehensweisen verhindern Rückzugsräume, in denen ich einfach so arbeite, wie ich allein das für richtig halte, mindestens so lange, bis mal wieder ein Gespräch mit meinem Chef ansteht. Das Maß an Transparenz und Kontrolle, das agile Ansätze mit sich bringen kann keine klassische Hierarchie der Welt leisten.

Und trotzdem oder gerade deshalb sind agile Ansätze wie gesagt ein wichtiger Beitrag für den Erfolg und die Zukunftsfähigkeit. Sie beinhalten – wenn sie funktionieren – eine ständige Neuausrichtung orientiert am Ergebnis und nicht am einmal im Jahr mit dem Chef vereinbarten Jahresziel, das vielleicht schon längst nicht mehr aktuell ist. Das bei den Mitarbeitenden als Mehrwert einzuführen und gemeinsam den Sinn zu entdecken, ist aber ein Prozess und manchmal auch ein langer Weg für alle Beteiligten, auch für den Chef.

Mit der Ansage „Wir müssen jetzt mal agiler werden!“ allein ist auf jeden Fall noch nichts gewonnen. Aber es lohnt sich, sich in diese Richtung auf den Weg zu machen.

 

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