Die Einführung von agilen Methoden aus reiner Menschlichkeit ist eine Illusion und der Druck auf den Einzelnen kann durch eine Hierarchieverschiebung größer werden.
Menschen haben ein inneres Bestreben sich weiterzuentwickeln und etwas leisten zu wollen. Man nennt das intrinsische Motivation. Der Autor R. K. Sprenger[1] spricht hier auch von zwei Vorbedingungen für motiviertes Handeln: Neugieraktivität und Funktionslust, also der Mensch will etwas ausprobieren und merken, dass es klappt und er damit erfolgreich ist. Das ist ein häufiges Argument, warum Unternehmen agile Methoden einführen und die dazu passenden Rahmenbedingungen schaffen. Ich denke, da ist auch etwas dran und es deckt sich mit dem PRAXISFELD Nutzenangebot: Spaß an der Arbeit und Erfolg können zusammengehen.
Dass das nicht der eigentliche Grund für die Einführung von agilen Methoden ist, dazu später noch mehr. Doch zuerst möchte ich auf eine Begleiterscheinung hinweisen, die agilen Unternehmen innewohnt, die vielen vermutlich nicht bewusst ist.
Transparenz in agilen Organisationen
Bei agilen Ansätzen ist das Handeln jedes Einzelnen viel transparenter und damit auch der Einfluss anderer Leute auf das Handeln einer einzelnen Person viel massiver als dies in klassischen Organisationsformen der Fall ist. Klassisch erhält man den Auftrag von seiner Führungskraft und zieht sich an seinen Arbeitsplatz zurück, um den Auftrag zu erledigen. Im Zweifelsfall sogar drei Monate im stillen Kämmerchen.
In einer agilen Organisation steht man in der Extremform jeden Morgen mit seinem Team zusammen (Daily) und muss, mal negativ ausgedrückt, rechtfertigen, wie man den gestrigen Tag verbracht hat. Natürlich konnte man am Tag vorher aussuchen, welche Aufgabe man übernimmt und welchen Beitrag man zum Ganzen leistet. Aber mit dieser Aufgabe zieht man sich nicht zurück und macht die Tür zu, sondern am nächsten Tag wird nachgefragt „Wie weit bist du? Hast du deine Aufgabe geschafft?“ Ich will das nicht schlecht reden, aber auf einen Nebeneffekt hinweisen: Bei agilen Ansätzen, egal welcher konkreten Idee oder Methode man folgt, wird die Hierarchie und die damit einhergehende Macht verlagert, nämlich von der Führungskraft ins Team. Also die Kollegen sind von nun an die Leute, die sich gegenseitig kontrollieren.
Man kann das mit dem Bild beschreiben, dass das Management nicht mehr oben ist, sondern um einen herum. Die klassische Rolle der Führungskraft, Ziele aufzustellen und nachzuhalten, wird hier verändert. In agilen Unternehmen können tatsächlich unterschiedliche Leute Leitungsaufgaben übernehmen, ob formal oder informell. Jeder kann beim morgendlichen Daily abfragen „Was hast du getan? Wie weit bist du gekommen?“.
Das ist ein Rollenprinzip. In der holokratischen Organisationsform ist dieses Prinzip auf die gesamte Organisation übertragen und es gibt keine festen Funktionen. Das ist die Darstellung im Kreis, wo es kein oben und unten mehr gibt wie im klassischen Organigramm.
Ich glaube, wir müssen keine Holokratie sein, um erfolgreich zu sein. Viel eher denke ich, dass das Vorhandensein eines Managements als Rahmengeber, als Entscheider in strategischen Fragestellungen auch bei sehr agil aufgestellten Organisationen notwendig ist.
Ein weit verbreitetes Bild ist, dass agile Organisationen humaner sind, weil alle mitbestimmen können. Das kann von den Organisationsmitgliedern so erlebt werden, aber auch das Gegenteil kann eintreten. Denn auch wenn an vielen Stellen die formale Hierarchie fehlt, bleibt die Frage nach der Macht und wer diese mit welcher Haltung ausübt. So sinnvoll Slogans wie „Wir müssen uns alle im Büro wohlfühlen, um erfolgreich zu sein“ sind, so haben diese Ansätze am Ende nichts Enthierarchisierendes an sich, sondern es ist eine Hierarchie- und Machtverlagerung. Wenn die Macht also per Definition nicht mehr die Führungskraft hat, verlagert sich diese. Andere Machtquellen können sein: Personen, die über Ressourcen verfügen, über Expertentum, über Wissen oder auch über persönliche Attribute wie Charisma.
Der Druck auf die einzelne Person kann bei agilen Ansätzen, je nachdem wie Macht in der Gruppe ausgeübt wird, sogar größer werden. Das ist der Nebeneffekt, der leicht übersehen werden kann.
Geld oder kein Geld, das ist hier die Frage
Um zum Anfang des Artikels zurückzukommen: Ich glaube nicht, dass der Auslöser, agile Methoden einzuführen, sein sollte, die Organisation humaner zu machen. Toll, wenn dies ein Nebeneffekt ist. Der Grund, warum Unternehmen agile Methoden einführen, ist recht einfach: Um mehr Erfolg zu haben, insbesondere wirtschaftlichen Erfolg. Ein soziales System überlebt nur, wenn es in seiner „Leitwährung“ Erfolg hat. In Wirtschaftsunternehmen ist beispielsweise die Leitdifferenz[2] Geld, in Non-Profit-Organisationen Hilfe, in der Politik Macht.
Manche Unternehmen können durch agile Arbeitsweisen ihren Erfolg steigern, weil dadurch ihre Produkte und Dienstleistungen besser die Kundenbedarfe erfüllen. Dies bedarf einer klaren Prüfung: Welches Ziel wollen wir mit der Umstellung auf agile Arbeitsweisen erreichen? Wie machen wir die Dinge dann anders? Welche internen Aufwände für die Umstellung entstehen? Welche Rahmenbedingungen gilt es in unserem Organisationsdesign anzupassen, damit Agilität auch tatsächlich gelebt werden kann? Wollen wir in einem Bereich einen Prototypen starten oder die ganze Organisation umstellen?
Auf die Beantwortung dieser Fragen sollte jede Agile Beratung und Planung eingehen, um sicherzugehen, dass die Transformation 1. sinnvoll ist und 2. erfolgreich werden kann.
Autor: David Agert
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[1] Sprenger, Reinhard K. (2012): Radikal führen. Frankfurt/New York: Campus Verlag
[2] Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp